„Die Schönheit deiner literarischen Sprache“

Die Autorin Marjaleena Lembcke ist gestorben. Die Illustratorin Stefanie Harjes hat ihr einen Brief geschrieben und erinnert darin an eine außergewöhnliche Frau, deren Geschichten bleiben werden.

An meine kleine zarte große starke Freundin voller Wärme (eine Liebeserklärung)

Liebe Marjaleena,

so beginnen die meisten der knapp 600 Mails, die ich Dir im Laufe unserer 20jährigen Freundschaft geschrieben habe. Also die, die nicht mit den Worten „meine liebste Marjaleena“ oder „liebste Marja“ beginnen. Genauso häufig hast auch Du mir geschrieben, oft postwendend, beide hatten wir stets das Bedürfnis, einander zu beantworten, obwohl wir uns mindestens genauso häufig beteuerten, dass Zeit vergehen dürfe bis zum nächsten Lebenszeichen. Manchmal schrieben wir uns mehrfach am Tag, oft bildschirmfüllend, dann wenigstens mehrfach in der Woche oder im Monat, nur zum Schluss seltener und zumeist in Form einer Kurznachricht.

Mehr als hundert Briefe gingen zwischen Hamburg und Greven hin und her, in beiden Städten glühten Ohren nach stundenlangen Telefonaten, lebten die Gespräche weiter, die uns miteinander verwoben, trieben Blüten, wilde Ranken. Und immer wieder entstanden neue Ideen zu neuen gemeinsamen Buchvorhaben.

Liebe Marja, Du bist gegangen, frühmorgens. Dein Aufbruch zeichnete sich ab, kam dennoch plötzlich. Die Welt steht still. Nein, nicht die Welt, die Welt macht unbekümmert weiter wie bisher; die Erde dreht sich, die Sonne geht auf und unter, ebenso der Mond, Wolken ziehen vorüber. Ich aber stehe still. Und versuche, ein neues Gleichgewicht zu finden. Denn alles ist anders.

Aus Finnland kamst Du nach Deutschland, im selben Jahr, in dem ich geboren wurde, und die Entwicklung unserer beiden Lebenslinien zielte darauf ab, dass wir uns 38 Jahre später in Wien begegneten. Abseits des Trubels erkannten wir einander im ersten Moment. Eine Art „coup de foudre”. Wir wurden, nein waren sofort Freundinnen.

Und haben uns nach und nach unsere Leben erzählt. Und die losen Enden miteinander verwoben. In leider viel zu wenigen persönlichen Begegnungen, dafür unzähligen E-Mails, Briefen, Telefonaten. Ein Konvolut, ausreichend für mindestens ein weiteres, diesmal sehr umfangreiches Buch, im Schuber, wertig, ergänzt mit Deinen flächig-farbigen Bildern und meinen.

In Eurem Garten haben wir gesessen. Durch den Wald sind wir gestreift, redend, Du liebtest die Natur. Am meisten die finnische. Die Finnin ist eine, die Birken liebt.

In Küchen haben wir gesessen und geredet. In Hamburg, Greven und Frankfurt. Natürlich bei Kaffee und Kuchen! Der Kaffee stark und schwarz. Aus filigranen Tässchen.

Du lachtest: „Deshalb kommt wohl auch in jedem meiner Bücher mindestens eine Szene vor, in der es Kaffee und Kuchen gibt!“ Dein Lachen: rau und eruptiv, ich liebe es!

Nie wolltest Du im Mittelpunkt stehen, hast immer versucht, Dich der Öffentlichkeit zu entziehen. Und warst doch so beliebt. Geliebt. Ein so liebenswerter Mensch. Gefragt. Als liebende und geliebte Lebensgefährtin, Freundin, Beraterin, Mutter. Ich hatte das Glück, Dich exklusiv erleben zu dürfen.

Es ist schön, dass wir niemals Geheimnisse voreinander hatten, sondern das Bedürfnis, einander ganz unverstellt zu zeigen. Dass soviel Vertrauen nicht nur gewachsen ist, sondern von Beginn an einfach da war.

Marjaleena Lembcke (Foto: privat)
Aus dem Bilderbuch "Der Bus mit den eckigen Rädern" (Illustration: Stefanie Harjes)

„Plötzlich hörte die alte Frau auf zu atmen und starb“, heißt es in unserem gemeinsamen Bilderbuch Der Bus mit den eckigen Rädern. Nie im Leben würde ich diesen Satz mit Dir in Verbindung bringen. Was heißt denn überhaupt alt? Du hast es doch selbst geschrieben in unserem gemeinsamen Buch Hexenheim Horizont: 80 Jahre sind kein Alter für eine Hexe!

Liebe Marja, Du warst jung, bist immer jung gewesen und geblieben, und mir kommt es vor, als sei Dein Tod ein vollständiger Irrtum, der sich aufklären lassen muss.

Aus dem Bilderbuch "Der Bus mit den eckigen Rädern" (Illustration: Stefanie Harjes)

Wer Deine Bücher liest, liest entlang Deiner Lebenslinie. Lebt und leidet und liebt mit Dir. Wie oft habe ich während der Lektüre eines Deiner Bücher geweint. Manchmal leise gelächelt. Weil es schön ist, Dir in Deinen Geschichten zu begegnen.

Unbeschreiblich, mit wieviel Liebe und Wärme Du Portraits zeichnest, die Menschen und ihre Verstrickungen beschreibst. Mich bewegt die Schönheit Deiner literarischen Sprache, die Klarheit und Zärtlichkeit in Deinen Worten, mit denen Du die Welt beschreibst. Und auch die Drastik, mit denen Du die Dinge benennst, ohne dabei grob zu sein.

Deine Geschichten, Deine Gedanken, Deine Liebe. Es ist viel, was Du dieser Welt gegeben hast. Äußerlich klein, zart und zerbrechlich bist Du immer gewesen. Ich habe Dich immer vorsichtig umarmt.

Dir selbst war oft kalt, Du hingegen voller Liebe und Wärme für andere. Deine Mails und Briefe endeten oft mit „Ich schicke Dir eine wärmende Umarmung. In Liebe, Deine Marjaleena.“ Die Lücke, die Du hinterlässt, ist riesengroß.

Wir bleiben nicht lange – so lautet der Titel Deines letzten Romans. Immer wieder haben Dich Krankheit und die schlimmsten aller möglichen Verluste in die Knie gezwungen. Aufgegeben hast Du nicht, bist immer wieder aufgestanden. Hast weitergelebt, trotzdem. Geschrieben, trotzdem. Sogar manchmal mit mir gelacht. Trotzdem.

Seit ich Dir begegnet bin hast Du mir gesagt, Du würdest nicht lange bleiben. Keiner aus Deiner Familie bliebe länger. Gemessen daran warst Du eine lange Zeit hier. Und doch viel zu kurz.

Ich vermisse Dich sehr.

Liebe Marja. Die Welt dreht sich weiter, doch Du hast Dich auf den Weg gemacht. Ich wünsche Dir eine gute Reise. Und dass Du gut dort ankommst, wo all die lieben Menschen auf Dich warten, die viel zu kurz geblieben sind. Bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen. Auf einer Blumenwiese unter einem Apfelbaum.

In Liebe, Deine Stefanie

P.S.: Bitte gib Bescheid, wenn Du angekommen bist. Eine kurze Nachricht genügt! (wie Du das machst, überlasse ich Dir; ich glaube, „es gibt da Mittel und Wege“… frag‘ Brecht!)

P.P.S.: Heute habe ich eine Schokoladenblume für Dich gepflanzt. Bislang wusste ich nicht einmal, dass so eine existiert. Ich bin mir sicher, dass sie Dir gefallen wird.

P.P.P.S.: Eben habe ich eine Schale mit Steinen und Wasser gefüllt, damit die Vögel trinken können. In den Steinen erkannte ich die Vögel selbst, die sie einmal waren. Ich bin mir sicher, dass, wenn ich morgen früh auf meinen Balkon gehe, sie sich auf den Weg zu Dir gemacht haben werden …

Bilder- und Vorlesebücher von Marjaleena Lembcke

Am 6. Juli ist Marjaleena Lembcke im Alter von 80 Jahren nach schwerer Krankheit gestorben. Sie wurde 1945 in Kokkola/Finnland geboren und studierte in Helsinki Theaterwissenschaften, bevor sie 1967 nach Deutschland zog. An der Kunstakademie Münster studierte sie Bildhauerei.

Ab 1985 veröffentlichte Marjaleena Lembcke Texte in deutscher Sprache, darunter viele Kinderbücher. Ihr erster großer Erfolg war Mein finnischer Großvater, 1993 bei Nagel & Kimche erschienen. Der Band war Auftakt einer sechsteiligen Serie rund um eine finnische Familie, in der die Protagonistin zunächst vier Jahre und im letzten Band 18 Jahre alt ist.

Als die Steine noch Vögel waren gehört auch dazu und war 1999 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. 2007 war die Autorin erneut nominiert, mit Liebeslinien. Ein Märchen ist ein Märchen ist ein Märchen erhielt 2005 den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis.

Marjaleena Lembcke schrieb auch für Erwachsene, u.a. die Romane Finnische Tangos und Wir bleiben nicht lange. Sie lebte zuletzt mit ihrem Mann in Greven bei Münster.

Marjaleena Lembcke (Foto: privat)

Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene

„In den Büchern gibt es die anderen Möglichkeiten“

Nach dem obigen kurzen sachlichen Einschub möchte ich (Susanna Wengeler) an dieser Stelle ein paar persönliche Worte hinzufügen. Denn Marjaleena Lembckes Bücher begleiten mich seit meiner Zeit als Buchhändlerin im Kinderbuchladen in Düsseldorf. Mein Lieblingsbuch von ihr ist bis heute Als die Steine noch Vögel waren. Darin spielt Pekka eine besondere Rolle, der erst mit zwei Jahren zu seiner Familie kommt, weil er zuvor mehrfach operiert werden muss. Er ist anders und wird von seinen Eltern und Geschwistern geliebt und beschützt. Sie wie auch die Leser:innen staunen immer wieder über die Beobachtungen und Worte des Jungen, z.B. diese: „In den Büchern gibt es Blumen, die in Finnland nicht wachsen. In den Büchern gibt es Tiere, die in Finnland nicht leben. Und in den Büchern gibt es auch die Vulkane. In den Büchern gibt es die anderen Möglichkeiten.“

Als Bewunderin ihrer Kinderbücher dekorierte ich Ende der 90er Jahre ein Schaufenster mit Titeln von Marjaleena Lembcke. Zu meiner großen Überraschung gewann ich den Schaufenster-Wettbewerb von Nagel & Kimche. Der großzügige Preis: Ein Wochenende in Helsinki. Also machte ich mich auf den Weg, es war Juni, die Stadt menschenleer, denn die Mehrheit der Einheimischen weilte irgendwo in der Natur und machte Ferien. Marjaleena war zeitgleich auch in Finnland, aber eben weit weg von der Hauptstadt. Sie hatte mir einen Brief ins Hotel geschickt, mit Tipps für die Stadt. Leider wurde er nie gefunden. Aber es wurde trotzdem eine besondere Zeit in Helsinki.

Jahre später, als ich für BuchMarkt die Frankfurter Buchmesse besuchte, kam ich an einem Abend spontan zu einem Abendessen dazu. Stefanie Harjes und ihr Lebensgefährte saßen an einem kleinen Tisch in einem wohltuend ruhigen Restaurant fernab des Messetrubels. Ich nahm Platz – und neben mir saß Marjaleena Lembcke. Wir begannen sofort, über Bücher zu reden. Sie gab mir das Gefühl, ruhig so sein zu dürfen, wie ich nun mal bin. Als sie nach draußen ging, um zu rauchen, folgte ich ihr, ins Gespräch vertieft, und erst, als sie mir eine Zigarette anbot, fiel mir wieder ein, dass ich Nichtraucherin bin.

Es blieb unsere einzige längere persönliche Begegnung. Aber wir haben uns hin und wieder Mails geschrieben, die ich bis heute aufbewahrt habe, darunter auch einige mit ungelenken Interview-Fragen von mir, die sie geduldig und tiefsinnig beantwortete. Meist schickte sie noch einen Lesetipp für mich mit, sie war auch eine große Leserin.

Ich würde mir wünschen, es wäre mehr vom Werk Marjaleenas lieferbar. Es tröstet mich, ihre Bücher immer wieder aus meinem Regal hervorziehen zu können und ihren Worten nachzugehen. Auf meine Frage „Wie sollten die Worte in einem Kinderbuch beschaffen sein, damit sie ihre volle Kraft entfalten können?“, antwortete sie vor Jahren:

„Wenn ich das wüsste. Bin schon lange auf der Suche nach diesen Worten.

Ich habe zunächst Gedichte geschrieben und bin eine Sätzesammlerin. Wenn ich ein Thema, einen Gedanken habe, zu dem mir Bilder und Sätze einfallen, schreibe ich sie auf. Wenn ich mich hinsetze, um eine neue Geschichte zu schreiben, beginne ich einfach und traue den von mir beschriebenen Personen, dass sie die richtigen Worte finden und mich dorthin führen, wo sie hinwollen und ich meist auch.

Natürlich gelingen unsere gemeinsamen Bemühungen nicht immer, aber dafür habe ich 10 bis 20 Male die Möglichkeit, letztlich doch meinen Kopf durchzusetzen und zu korrigieren, was mir nicht richtig erscheint oder zu kürzen, wo zu viele Worte sind. Etwas soll zwischen den Zeilen bleiben, eine leere Zeile, die die Leser mit ihren eigenen Gedanken füllen können.

Ich tue mein Bestes, aber ganz zufrieden bin ich nie. Das ist vielleicht auch gut, denn das Gefühl, dass noch etwas fehlt, sei noch nicht erzählt oder nicht richtig erzählt, spornt mich an zu einem neuen Versuch.“