Eingeladen hatte das Junge Literaturhaus Frankfurt im Rahmen des erstmalig in diesen Tagen stattfindenden Festivals Stadt, Land, Buch. Dessen Ziel: „durch ein breitgefächertes Programm und die besondere Festivalatmosphäre neue Maßstäbe zu setzen und das Lesen als kreative und gesellschaftlich relevante Praxis nachhaltig zu fördern.
Der Leiter des Jungen Literaturhauses Frankfurt Benno Hennig von Lange zitierte bei seiner Begrüßung die Autorin Francesca Cavallo, die Teil des Festivals war, mit den Worten: „Kinderliteratur ist die politischste Literatur.“ Er teilte aber auch seine selbstkritischen Gedanken: „Ich habe Zweifel, ob wir das, was wir machen, schon gut genug machen.“ Christina Tüschen, die den Tag im Auftrag des Jungen Literaturhauses organisiert hatte, ergänzte: „Es geht heute auch darum, unterschiedliche Aspekte darzustellen. Es gibt schon so viele gute Ansätze, aber oft wissen wir gar nichts voneinander.“
Deutlich wurde in den folgenden Beiträgen und Pausengesprächen, dass gelungene Vermittlung von Kinder- und Jugendliteratur immer wieder auf dem persönlichen Engagement der Akteur:innen beruht und dass die meisten bis zur Belastungsgrenze und darüber hinaus arbeiten. Wenn es also noch ungenutzte Ressourcen gibt, dann im Wissens- und Erfahrungsaustausch, sowohl über die Tätigkeit an sich als auch über Wege, sich für die eigenen Projekte an relevanter Stelle Gehör zu verschaffen. Ein Rückblick auf ein volles Programm:
Sie legte dar, dass im gesellschaftlichen Diskurs häufig mehr über Kinder gesprochen werde als mit ihnen und dabei häufig die Zukunftsform gebraucht werde. „Über das Zukunftsnarrativ schaffen wir es, dass wir die echten Probleme nicht benennen müssen.“ Kinderrechte gehörten in den Mittelpunkt – und müssten endlich umgesetzt werden. In Artikel 17 der Kinderrechtekonvention ist auch die Förderung der Herstellung und Verbreitung von Kinderliteratur festgeschrieben.
„Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ist kein pädagogisches Konzept. Sie ist ein völkerrechtlicherer Vertrag, der auf höchster diplomatischer Ebene verhandelt wurde. Sie ist die stärkste Konvention, denn 192 Länder haben sie gezeichnet. Sie ist auch stärker als eine ,allgemeine Erklärung‘. Und ja, wir wünschen sie uns ins Grundgesetz. Aber eigentlich brauchen wir sie da nicht. Denn sie ist so gültig wie die Straßenverkehrsordnung.“
Die Kinderrechtler:innen brauchten die Vermittler:innen von Kinderliteratur, denn die Kinderrechtekonvention sei kein pädagogisches Konzept. Kinderbücher seien politisch, so auch der Ansatz von Miriam Zeleke, und es gibt Länder, die Bücher verbieten – als Beispiel nannte sie Das Tagebuch der Anne Frank in den USA. Sie appellierte aber auch an das Verantwortungsbewusstsein beim Schaffen und Verbreiten von Kinderliteratur:
„Bitte erzählen Sie, dass die Kinder ein Recht auf kinderrechtskonforme Kinderbücher haben.
WENN Sie Bücher schreiben, schreiben Sie Bücher MIT Kindern. Und nicht nur ÜBER sie oder vermeintlich FÜR sie (und in Wahrheit für sich selbst). Bitte beteiligen Sie die verschiedenen Kinder an den Fragen guter Literaturvermittlung, lassen Sie die Kinder ebenfalls Literatur vermitteln und übernehmen Sie Verantwortung für sichere Räume für die Kinder aus belasteten Lebenslagen. Bitte besuchen Sie, wertschätzend und fragend, die Räume der Kinder.“
Bevor Kinder in der Schule mit Literatur in Berührung kommen, müssen ihre Lehrer:innen dafür vorbereitet werden. Und in ihrer Arbeit mit künftigem Lehrpersonal habe sie es immer häufiger mit Nichtleser:innen zu tun, berichtete Marlene Zöhrer.
„Die Liebe fürs Lesen ist bei Studierenden nicht mehr selbstverständlich.“
Daher sei sie auch Literaturvermittlerin, versuche Vorurteile gegenüber Kinderliteratur abzubauen und motiviere dazu, aktuelle Kinderliteratur zu lesen. Ihr Ansatz: Studierende suchen sie ein Kinder- oder Jugendbuch aus, das sie lesen – ohne dass sie anschließend ein Referat darüber halten müssen. Vielmehr sollen sie eine kreative Buchpräsentation erarbeiten.
„Wir müssen mehr Literaturvermittlung wagen in der Ausbildung.“
Im Selbsterleben eines neuen Zugangs zur Kinder- und Jugendliteratur sieht Marlene Zöhrer einen Schlüssel. Sie zeigte einige Beispiele ihrer Studierenden, denen anzusehen war, dass sie sich mit Freude mit den Titeln auseinandergesetzt hatten, und nicht nur, weil es dafür einen Schein gab.
Sie wies auf die aktuelle Lage hin, in der Leseförderung häufig durch ehrenamtlich tätige Menschen ausgeübt wird. Und so wichtig und begrüßenswert dieses Engagement auch sei:
„Das Ehrenamt darf nicht die Lücken füllen, wo Politik versagt.“
Zu den Forderungen des Bundesverbands Leseförderung gehören daher professionelle Strukturen für die Bereitstellung von Leseförderung sowie verlässliche Förderungen. Angeboten werden unterschiedliche Formate der Fortbildung wie „Literacy kompakt“ für Erzieher:innen und pädagogische Fachkräfte in Kitas.
Das Bücherkoffer-Programm von Coach@School wird in Frankfurt am Main vom Verein chancenreich als Frankfurter Bücherkoffer umgesetzt, den Claudia Landmann vorstellte. Der türkisfarbene Koffer rollt in doppelter Ausführung in die Schulklassen und kann von je zwei Kindern für eine Woche lang mit nach Hause genommen werden. Die Bücher sind außerdem in den Stadtteilbüchereien und im Bücherbus ausleihbar.
Da in Frankfurt mehr als 200 Sprachen gesprochen werden, passt der generelle Fokus des Projekts auf Mehrsprachigkeit besonders gut. Weitere Säulen sind Lesefreude, Elternbeteiligung sowie die Vernetzung von Schulen untereinander. Seit 2019 wurden damit laut Claudia Landmann rund 10.000 Familien erreicht.
„Vorlesen in Familien“ ist ein spendenbasiertes Projekt der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, das jedoch nicht an phantastische Literatur gebunden ist. Seit fast 20 Jahren werden dort Vorleser:innen ausgebildet, die dann ehrenamtlich in Familien gehen, die wenig Bezug zu Büchern haben. Anders als beim Frankfurter Bücherkoffer gehe es dabei nicht darum, möglichst viele Kinder zu erreichen, sondern einige besonders intensiv zu begleiten. Die Vorleser:innen besuchen mindestens ein Jahr lang, oft auch länger, die Familien regelmäßig für eine Stunde, um vorzulesen – und erhalten in dieser Zeit Supervision.
20 bis 30 Familien werden so pro Jahr mit Büchern und Geschichten in Berührung gebracht. Wichtig dabei sei, dass die Vorlesenden grundsätzlich positive Rückmeldungen an die Besuchten geben, „und sei es nur, dass ein Kind fünf Minuten stillgesessen hat“.
Es war ein emotionaler Moment, als Maren Bonacker davon erzählte, dass derzeit eine ganze Reihe von Einladungen zu Schulabschlussfeiern eintrudelten, von ehemaligen Teilnehmer:innen des Projekts, die rückmeldeten: „Ich habe nicht vergessen, was du für mich getan hast.“ Vielleicht sollte man solche Erlebnisse viel öfter miteinander teilen.
Vorlesen in Familien – ein Projekt der Phantastischen Bibliothek Wetzlar
Dort gibt es u.a. das Projekt Lesestark!, das 2008 dank einer großzügigen Spende gestartet werden konnte und das in diesem Jahr 151 Lesepat:innen in Kitas und Schulen entsendet. Jährlich kommen so ca. 5.000 Kinder in den Genuss, mindestens einmal im Monat von Ehrenamtlichen vorgelesen zu bekommen, im schulischen Umfeld oder in der nächstliegenden Stadtteilbibliothek.
Die gleichnamige Veranstaltungsreihe setzt auf Kooperationen mit anderen Kulturorten Dresdens, z.B. dem Albertinum, der Philharmonie oder dem Verkehrsmuseum. „Mit Büchern kann man man immer inhaltliche Parallelen herstellen“, so Christine Lippmann. Im Albertinum wurde unter dem Titel „Ich sehe was, was du nicht siehst. Die Kunst (zu) lesen“ vor Werken von Caspar David Friedrich, Max Slevogt und Wolfgang Tillmans vorgelesen, Tanz, Pantomime und Musik ergänzten das Programm. Unter den Vorlesenden der Veranstaltungsreihe, die 460 Kinder erreichte, befanden sich u.a. Landtagspräsident Alexander Dierks sowie Staatsministerin Barbara Klepsch. Christine Lippmanns eindringlicher Rat:
„Ladet Entscheidungsträger als Vorlesende ein!“
Das Akquirieren von Fördergeldern falle in einer Stadt mit über 40.000 Millionären leichter, zudem sei der Kulturetat gerade erhöht worden, sagte Nina Kuhn-Moritz. Sie gab aber auch zu Bedenken: „Auch in Hamburg ist jedes vierte Kind von Armut betroffen und jeder siebte Erwachsene ein funktionaler Analphabet.“ Der Verein Seiteneinsteiger wurde 2007 gegründet und erhält sein Budget in erster Linie von der Stadt. Zwölf Frauen sind dort hauptberuflich beschäftigt, um ein vielfältiges Programm auf die Beine zu stellen.
Das Lesenetz Hamburg wiederum wird vom Verein Seiteneinsteiger koordiniert und dient dem Austausch zwischen Akteur:innen der außerschulischen Leseförderung sowie Weiterbildungen zu Themen wie Zeitmanagement.
In vier Workshops, für die sich die Teilnehmer:innen auf unterschiedliche Räume im schönen Literaturhaus verteilten, wurden anschließend Einzelaspekte genauer betrachtet.
Institut für Jugendbuchforschung
Im Laufe des Tages zeigte sich, dass der direkte Austausch miteinander immer wieder neue Ideen entstehen ließ. Wer sich durch die in diesem Artikel hinterlegten Links zu den einzelnen Projekte klickt, wird feststellen, dass einige davon bereits vernetzt sind. Die direkte Begegnung jedoch birgt sehr viel mehr Potential.
Wie immer nach solchen Treffen mit vielen neuen Eindrücken bleibt die Frage, wie man das jetzt alles sinnvoll mit ins eigene Arbeiten nehmen soll. Und was das alles bedeutet. Allein, dass die Veranstaltung früh ausgebucht war, zeigt, wie groß der Wunsch nach mehr Vernetzung ist. Was fehlt, das wurde im Plenum auch benannt, sind Hauptamtliche, die Aufgaben der Koordination übernehmen können. Das ist nichts, was nebenbei gelingen kann.
Christina Tüschen zieht ein positives Fazit – und in der Tat haben die Beiträge des sorgfältig kuratierten Programms von „Ein paar Seiten weiter“ sowohl die Bandbreite als auch die individuelle Qualität von Literaturvermittlung heute aufgezeigt – und dass es dabei nicht zwangsläufig immer „nur“ ums Buch gehen muss.
Das Festival Stadt, Land, Buch sowie die Tagung „Ein paar Seiten weiter“ sind in der glücklichen Situation, jetzt schon zu wissen, dass sie ihre Formate im kommenden Jahr dank ihrer Sponsoren fortsetzen zu können. Damit bis dahin aber nicht Kontakte einschlafen oder Ideen vertagt werden, gibt es die Überlegung, bis dahin eine digitale Fortsetzung des Tages im Literaturhaus Frankfurt anzubieten.
Vielleicht könnten die Teilnehmenden bis dahin Erfolgserlebnisse aus ihrem Arbeitsalltag notieren, es käme sicher eine beeindruckende Liste zusammen. Denn Bilder wie das der eintrudelnden Einladungsbriefe zu Schulabschlussfeiern ehemaliger Vorlesekinder könnten ein Baustein sein, um mehr Aufmerksamkeit für ein zentrales gesellschaftliches Thema zu erlangen.
Susanna Wengeler
Das Festival Stadt Land Buch geht heute Abend zu Ende – hier gibt es mehr Informationen dazu.
Zum Instagram-Account von Stadt Land Buch @stadtlandbuch.festival